6 Fragen an … #2 Annabella Stieren (Regisseurin)

Alle ehemaligen Schülerinnen und Schüler beziehen sich immer auf folgende 6 Fragen:

  • Das Werner-von-Siemens-Gymnasium war für mich: …
  • Nach der Schulzeit habe ich: …
  • Mein beruflicher Alltag ist geprägt von: …
  • Die Highlights in meinem Job sind: …
  • Auch das gehört „leider“ zu meiner beruflichen Tätigkeit: …
  • Mein Tipp für die Schulabgänger*innen lautet: …

Name: Annabella Stieren
Beruf: Regisseurin
Schulzeit: bis 2009
Kontaktmöglichkeit: annabella@springrollmedia.com

1) … die Zeit auf dem Werner-von-Siemens-Gymnasium war für mich wie jede gute Beziehung voller Höhen und Tiefen. Es gab Zeiten, in denen habe ich mich wohl gefühlt, habe viel gelernt und hatte Spaß mit meinen Freunden. Manchmal war ich aber auch einfach nur müde, gestresst, gelangweilt, schüchtern oder einsam. Ich glaube aber das hatte weniger mit der Schule zu tun als mit der generellen Unsicherheit und Unzufriedenheit, die ich in dem Alter gefühlt habe. Wenn ich jetzt zurück blicke, fallen mir aber vor allem die schönen Momente ein und die vielen Freunde, mit denen ich noch heute täglich Kontakt habe.

2) … nach der Schule habe ich versucht so schnell wie möglich Geld zu verdienen, damit ich mit meinen Freunden ans Mittelmeer reisen kann. Ich habe angefangen bei einer Agentur zu arbeiten, die Organisationen dabei hilft Spenden zu sammeln. Das heißt ich war eine von denen, die dich vor der U-Bahn anquatschen und fragen, ob du zwei Minuten Zeit hast, um den Regenwald zu retten. Das war wirklich richtig furchtbar. Ich wurde ständig beleidigt, stand den ganzen Tag im Regen rum und die Bezahlung war schlecht. Aber ich habe gelernt nicht mehr schüchtern zu sein, mit Zurückweisung umzugehen, Menschen zu verstehen und vor allem zuzuhören. Ich war nicht besonders erfolgreich in diesem Job, weil ich es spannender fand, die Menschen nach Ihrem Alltag und Leben zu fragen, als ihnen WWF Mitgliedschaften zu vermitteln. Dann habe ich Politik, Psychologie und später Journalismus studiert. Dabei hat mich am meisten fasziniert, wie man persönliche Geschichten so erzählen kann, dass sie etwas über gesellschaftspolitische Zusammenhänge aussagen können.
Ich habe neben dem Studium aber auch immer mehrere Nebenjobs gehabt, als Kellnerin, Fotografin, Barkeeperin, Putzkraft, Tutorin und Erntehelferin. Ich wäre sogar einmal fast als Mülltonne verkleidet über eine Messe gelaufen. Ich glaube, dass ich bei all diesen Jobs mehr für meinen derzeitigen Beruf gelernt als im Studium. Als Dokumentarfilm Regisseurin muss man meiner Meinung nach vor allem zuhören können, aufmerksam und neugierig sein. Heute mache ich Filme, in denen meist weibliche Protagonistinnen einen Einblick in ihren Alltag geben und zeige so, wie ihre Realität die aktuelle politische Situation in einem Land widerspiegelt.

3) … eigentlich gibt es in meinem Beruf so etwas wie einen Alltag nicht. Jeder Tag ist einzigartig und komplett verschieden. Es gibt Zeiten, in denen gibt es wenig zu tun, dann schreibe ich Bewerbungen, warte auf die Finanzierung eines Projektes, recherchiere, besuche Workshops und Filmfestivals oder spiele Gitarre und warte darauf, dass mir eine geniale Idee kommt. Dann gibt es Phasen, in denen ist auf einmal so viel zu tun, dass man kaum noch schläft. Dann wird gereist, gefilmt, geschnitten, geweint und auch viel gelacht.
Ich bin Freiberuflerin, das heißt ich bin für alles selbstverantwortlich (Steuern, Krankenkasse usw.). Vor 4 Jahren habe ich mit zwei anderen Filmemacherinnen ein Kollektiv gegründet, das heißt wir entwickeln Projekte zusammen und unterstützen uns gegenseitig.
Das ist allerdings nicht der einzige Weg. Es gibt sicherlich Regiseur*innen, die einen geregelteren Alltag haben und/oder fest angestellt sind.

4) … das größte Highlight in meinem Job ist, dass ich so viele unfassbar interessante Menschen, Kulturen und Geschichten kennenlerne. Früher hatte ich immer Angst, dass wenn ich mich für einen Job entscheide, ich viele andere Sachen nicht mehr machen kann. Ich kann zum Beispiel nicht mehr Astrophysikerin werden, obwohl ich das auch super interessant finde. Ich hatte immer Angst, dass das Leben zu kurz ist, um all die Dinge zu lernen, die mich interessieren. Daher ist mein Job jetzt perfekt für mich. Wenn mich ein Thema wirklich interessiert, kann ich versuchen einen Film darüber zu machen. Ich muss nicht mehr selbst Astrophysikerin werden, sondern ich kann eine Astrophysikerin begleiten, ihren Alltag kennenlernen und muss nicht mal Mathe können.

5) … pleite sein. (Fast) niemand wird vom Dokumentarfilme machen reich. Wir sind alle leidenschaftliche Überlebenskünstler*innen und ich arbeite nebenbei für eine NGO. Kaum Geld zur Verfügung zu haben, hilft dabei kreativ zu bleiben und sich nicht allzu sehr vom echten Leben und den Geschichten, die ich erzählen möchte, zu entfernen. Auch Selbstzweifel gehören zum Alltag: Ist das, was ich hier mache wirklich wichtig? Interessiert das überhaupt jemanden? Wird sich jemals etwas ändern in der Welt, nur weil ich Filme mache? Das ist die Kehrseite, wenn man etwas zum Beruf macht, was einem sehr wichtig ist. Jede Geschichte wird immer ein Teil von mir sein, und es ist einfach Kritik oder Zurückweisung persönlich zu nehmen. Deswegen ist es für mich die Arbeit im Kollektiv ideal. Wir können uns gegenseitig unterstützen und Feedback geben.
Wir haben auch schon viele Projekte gemacht, die uns emotional sehr beschäftigt haben. Manche Schicksale und Bilder gehen einem nie wieder aus dem Kopf. Stress und Trauma können leider auch zum Beruf dazu gehören. Deswegen ist es umso wichtiger sich mit anderen Kolleg*innen, Freunden und/oder Familie auszutauschen und zu lernen sich selber persönliche Grenzen zu setzen.

6) … macht euch nicht so viel Stress und genießt den Moment  Ihr habt jetzt ein Abitur von einer sehr guten Schule in Berlin und damit gehört ihr wahrscheinlich schon mal zu den privilegiertesten 1% der Weltbevölkerung. Jetzt habt ihr auch noch das große Glück euch mehr oder weniger auszusuchen, was ihr mit dem Rest des Lebens machen möchtet. Klar, das wirkt erst einmal wie eine riesige Entscheidung, aber eigentlich sind es sehr viele kleine Entscheidungen auf einem langen Weg. Ich glaube es ist wichtiger zu verstehen, dass viele der Jobs, die wir heute wählen können, vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr existieren werden. Vieles ist außerdem purer Zufall: Wer weiß, wen ihr so trefft oder was für eine Pandemie, Krieg oder Katastrophe alles verändert. Für mich ist das wichtigste daher, immer neugierig und flexibel zu bleiben, zu reflektieren und mich ständig zu fragen, ob ich etwas verändern möchte.